„Diese Woche haben Sie etwas Bemerkenswertes gemacht, für das Sie zu Recht großen, großen Respekt erfahren haben.“
Schon die einleitenden Worte von Moderatoren Anne Will deuteten an, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in diesem ARD-Interviewformat keine gefährlichen Nachfragen einer kritischen Journalistin zu erwarten hat. Durch die ganze Sendung zog mindestens ein Hauch Haus- und Hofjournalismus, teilweise glichen die seichten Nachfragen eher der Audienz bei ihrer Excellenz als einer kritischen Rückschau der völlig verfehlten Corona-Politik der letzten Wochen.
Schon zu Beginn schloss Will aus, eine kritische Gegenhaltung zur Corona-Politik der Kanzlerin einnehmen zu wollen: „Ich habe übrigens nachgedacht, wie ich das Interview anlege. Ich hätte ja jetzt auch die ganze Zeit die Gegenposition beziehen können, sagen können, es müssen Lockerungen her, die Menschen machen das nicht mit und so. Ist aber ja gar nicht so. Und ohnehin möchte ich gerne verbleiben in dem Grundsatz, den Sie eben auch noch einmal mit dem sehr guten Zitat ‚Es ist ernst, bitte nehmen Sie es ernst‘ gesagt haben.“
So saß nicht Merkel auf der redaktionellen Anklagebank und musste sich für die Pannen und Missverständnisse im Corona-Irrenhaus Deutschland rechtfertigen, sondern die Ministerpräsidenten der Länder, die nicht einmal zugeschaltet waren. Eine schallende Ohrfeige erhielt dabei der neue Bundesvorsitzende der CDU, Armin Laschet.
Neben der Watschn für den NRW-Ministerpräsidenten deutete Merkel einen härteren Coronakurs mit weitreichenderen Restriktionen für die nächsten Wochen an. Es scheint, als wolle die Kanzlerin das Corona-Ruder bald allein in der Hand halten wollen.
Angela Merkel bei Anne Will: Bitterböse Abrechnung mit den Ministerpräsidenten
Interessant wird das Gespräch zwischen Merkel-Fan Will und der Kanzlerin selbst, als diese beinahe unbemerkt in den Angriffsmodus auf die 16 Länderchefs umschaltet. Die verunglückten Oster-Beschlüsse und die Bund-Länder-Beratungen seien „eine Zäsur“, eine Fortsetzung dieser Art der Politik solle es nicht mehr geben.
Zwar gebe es einen „Instrumentenkasten“, es fehle jedoch das passende Instrument zur Bekämpfung des Corona-Virus, so die Kanzlerin. Anschließend folgt eine Abrechnung der Politik der Ministerpräsidenten von Berlin bis ins Saarland. Mit belehrendem Unterton stellt Merkel infrage, „ob Testen und Bummeln wie jetzt in Berlin“ die Lösung gegen das Infektionsgeschehen sei. Für die Öffnungsstrategie im Saarland sei keine Grundlage gegeben, der Zeitpunkt der völlig falsche. Und die Kanzlerambitionen von Armin Laschet dürften spätestens seit gestern Abend Geschichte sein. Die Ankündigung des CDU-Bundesvorsitzenden, die Corona-„Notbremse“ vorerst nicht umzusetzen, erfülle die 66-Jährige „nicht mit Freude“. Es gebe zu viel „Ermessungsspielraum“ in der Umsetzung der Beschlüsse in Nordrhein-Westfalen. Auch die anschließende Abschwächung, dass Laschet nicht der einzige Ministerpräsident sei, der gegen die geltenden Beschlüsse verstoße, rettet die Situation für den Möchtegern-Kanzler nicht.
Alles in einer Hand? Merkels Machtfantasien
Eine neu angesetzte Ministerpräsidentenkonferenz, wie vom SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach gefordert, lehnt Merkel bisher ab. Vielmehr schiebt sie den schwarzen Peter den Bundesländern zu, in denen es zügige Handlungen brauche: “Wissen Sie, was ich manchmal für ein Gefühl habe, dass sich eine Rollenverteilung herausgebildet hat: ‘Wir wissen schon, dass das Kanzleramt streng ist und deshalb können wir ein kleines bisschen lockerer sein’”, klagt die Kanzlerin an. An einer ganzen Liste an Maßnahmen und Freiheitsentzug arbeitet sich Merkel anschließend ab, „um das exponentielle Wachstum zu stoppen“:
Umsetzung der beschlossenen Notbremse ab einer 100er-Inzidenz, die Rücknahme aller Lockerungsmaßnahmen, Ausgangsbeschränkungen, verpflichtende Tests in Schulen und bei Arbeitnehmern. Die umstrittenen Ausgangsbeschränkungen kommentiert Merkel:
„Ausgangsbeschränkungen können ein ganz wirksames Mittel sein, gerade jetzt in den Abendstunden, wo eben vielleicht doch in den Parks relativ viel stattfindet.“
Zum Ende folgt eine offene Drohung, den Ländern Entscheidungshoheit entziehen zu wollen und die gesamte Macht in der Corona-Politik auf den Bund zu verschieben. Eine erneute Änderung des Infektionsschutzgesetzes könne dafür sorgen, dass die entsprechenden Regeln auf Bundesebene umgesetzt werden. Merkel denke zwar noch darüber nach, doch sei dieser Schritt ins Auge zu fassen, falls die derzeit geltenden Maßnahmen nicht „mit großer Ernsthaftigkeit“ und in „ein paar Tagen“ umgesetzt werden: „Aber es wird dazu kommen, dass wir das Richtige tun.“
Ist die Ministerpräsidentenkonferenz bald Geschichte? Entscheidet bald der Bund bzw. Merkel allein über die deutsche Corona-Politik?
Nichts scheint mehr unmöglich.
Dass Moderatorin Anne Will diese Allmachtsfantasien beinahe unkommentiert stehen lässt, ist zudem ein Tiefschlag für den deutschen Journalismus.
TM
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